VILLA  STARENKASTEN

Meine Kindheit im Bahnhaus am Logaer Weg in Heisfelde

Erinnerungen von Heidegret Gronewold geb. Rostalski

 

Nach und nach verliert es immer mehr von seinem ehemaligen Charme, - das alte Bahnhaus am Logaer Weg an der Bahnstrecke Leer - Emden. Darum möchte ich versuchen, etwas aus der lange zurückliegenden Zeit lebendig zu machen, das Leben in diesem Haus, sein Umfeld, das geprägt war durch die Bahnstrecke, wieder in mir wach zu rufen, um so die dort verbrachte Kindheit wieder aufleben zu lassen.

Das Bahnhaus am Logaer Weg             Foto: Sammlung Berend Schröder

 

Von 1945 bis 1957 lebten wir als "Eisenbahnerfamilie" - meine Eltern, meine zwei Jahre ältere Schwester Christel und ich in diesem Haus mit seinem großen Garten und einer intakten Nachbarschaft ringsherum, wie es ja in dem genannten Zeitraum meist üblich war. Man half sich gegenseitig, mit materiellen Dingen, vor allem aber auch zwischenmenschlich. Das war wohl bedingt durch die zurückliegenden schlimmen Kriegsjahre, die ich - 1942 geboren - zwar nicht als "schlimm" erlebt habe.

Meine erste Erinnerung an besagtes Bahnhaus ist, dass ich, kaum dort eingezogen, als Dreijährige nach Kriegsschluss von kanadischen Besatzungssoldaten mit Schokolade beschenkt wurde. Ein gutes Omen für die 12 Jahre, die meine Schwester und ich dort gut versorgt und behütet von unseren Eltern verleben durften. Zeit, für die man nur dankbar sein kann, sie hat einen fürs Leben geprägt. Wir hatten eine herrliche Kindheit.

Doch nun zu „unserem“ Haus. Von außen hob es sich von den umliegenden Häusern dadurch ab, dass es zweistöckig war und auch immer noch ist. Die Ausmaße, die Form und die Fassadengliederung war gänzlich anders als die Nachbarhäuser. Meine Mutter bezeichnete unsere Bleibe als "Villa Starenkasten". Damit hat sie das Aussehen des Hauses gut getroffen. Ein hoher Kasten mit einer kleinen Grundfläche.

Ein kleiner nach Süden vorgebauter Windfang vergrößerte die sonst nicht sehr große Wohnfläche. Hier war auch der Eingangsbereich, entsprach aber nicht einem Flur, sondern wurde als "Wirtschaftsraum" genutzt, mit einer Holzbottich-Waschmaschine und einer Zinkbadewanne, in der gebadet wurde (jetzt aber nicht an ein Badezimmer denken!). Wasser gab es dafür auch, aber es musste mit einer Pumpe hochgepumpt werden. Ein viereckiger Spülstein diente für Zu- und Abfluss, natürlich war das Wasser kalt. Für das allwöchentliche Badevergnügen musste das Wasser in der Küche auf dem damals üblichen großen Küchenherd in großen Töpfen oder Kesseln gewärmt werden. - Wir Kinder genossen die Planscherei in der Wanne. Mutter wohl weniger, denn nach dem Baden stand der halbe Windfang unter Wasser. 

Der wichtigste Bereich in jenen Jahren war die Küche. Hier prasselte in der kalten Jahreszeit immer der Herd mit mehreren Kochstellen, die man auf die gewünschte Topfgröße einstellen konnte, indem man mit einem Eisenhaken mehr oder weniger "Ringe" aus der sonst geschlossenen Herdplatte heraus nahm, damit der Topf, die Bratpfanne direkt auf dem offenen Feuer stand: Und nicht zu vergessen, in Sommerzeiten neben dem täglichen Mittagessen auch der Einweckkessel, bestückt mit Gläsern, diese gefüllt mit grünen- und große Bohnen, Erbsen, Wurzeln, Kirschen, Erdbeeren usw.. Der Küchenherd war somit für uns sehr wichtig. Ärgerlich war höchstens, wenn die Milch einmal überkochte. Erstens stank dann die Wohnung ziemlich brenzlig - und zweitens war der Glanz des Herdes dahin - und das war nicht gut. Denn der Herd als Seele des Hauses hatte einfach zu glänzen. Jeden Tag wurde er mit Weedol auf Hochglanz poliert. Übergekochte Milch brachte dann zusätzliche Arbeit mit sich. - Wir Kinder liebten es besonders, auf der Ofenplatte grüne Erbsen springen zu lassen. Popcorn kannte man damals noch nicht. Wir legten einfach getrocknete Erbsen auf die heiße Platte. Sprangen die Erbsen hoch, waren sie "fertig". Nach und nach nahmen wir sie herunter, und gleich wurden sie als "Leckerei" verputzt. Sie schmeckten ein bisschen nussartig.

Die Küche, die nur klein war, war der geselligste Raum im Haus. Hier wurde gekocht, gegessen, die Schularbeiten gemacht, Radio gehört und gespielt, wenn man nicht draußen herumspringen konnte. Von hier aus ging auch die Treppe nach oben - nicht als Freitreppe wie heute üblich, sondern abgetrennt mit einem Holzverschlag mit Tür.

Nach unten ging es in den Keller. Jawohl, damals hatten die meisten Häuser noch einen Keller. Das war auch dringend erforderlich, gab es doch in der Regel noch keinen Kühlschrank. Im Keller wurde alles aufbewahrt, was kühl gestellt werden musste. In der Erntezeit wurden hier die Kartoffeln in der großen Kartoffelkiste, auf Holzablagen die Äpfel und Birnen, natürlich auch der Buskohl (Weißkohl.Verf.) und der Rotkohl eingelagert. Und natürlich standen hier die Steintöpfe mit selbst eingelegten Schnippelbohnen und Sauerkraut. Alles, was der eigene Garten hergab, wurde hier eingelagert.

Auch hingen da an der Decke die Würste vom erst gemästeten und dann geschlachteten Schwein und in den Regalen stand in Dosen und Einweckgläsern so manches, was man für die Winterzeit als Versorgung der Familie benötigte. 

Anfangs befiel mich doch ein gruseliges Gefühl, wenn ich in das Dunkel des Kellers abtauchte, hatten wir doch bei "Tante Gertrud" im Heisfelder Kindergarten, der sich damals in der Schule in einem Klassenraum befand, gelernt: "Im Keller ist es duster, da wohnt ein armer Schuster". Da ich aber nie jemanden da unten entdeckte, auch nicht den besungenen Schuster, verflog die Angst. Spätestens, als ich in die Schule kam, denn dann gehörte man ja zu den "Großen".

Bevor es nun die Treppe nach oben geht, noch einen Abstecher von der Küche aus ins Wohnzimmer Eigentlich war das eine völlig falsche Bezeichnung, denn gewohnt wurde da nie. Das war die gute Stube für besondere Feste. Oder, wenn es einem als Kind nicht so gut ging, wurde man verdonnert, sich auf dem dortigen Chaiselongue zu erholen. Das war besonders unbeliebt. Dann war es schon besser, richtig krank zu sein, eben Masern, Mumps oder gar hohes Fieber zu haben, denn dann wurde man richtig verwöhnt. Heiße Milch mit Butter und Honig, gewärmtes Brot aus der Pfanne, eingemachte Früchte wurden nach oben gebracht und mit guten Worten angepriesen. Dazu wurde einem erzählt, was das Herz erfreuen sollte und meistens auch tat.

Nun bin ich in Gedanken schon nach oben ins Obergeschoß gegangen. Dort befanden sich zwei Zimmer: Das elterliche Schlafzimmer und das andere für meine Schwester und mich. Wir hatten eine schöne Kindheit. Dazu hat nicht zuletzt beigetragen, dass wir beiden Schwestern diesen gemeinsamen Raum zum Schlafen hatten. Denn viel mehr spielte sich da schon aus Platzgründen nicht ab. Aber allein schon das abendliche Ritual des Zubettgehens gab uns ein unschätzbares Geborgenheitsgefühl. So konnte man getrost nach einigem Getuschel einschlafen. Und plagten mich des Nachts dann doch böse Träume, durfte ich in das Bett zu meiner "großen Schwester" kriechen und alles Bedrohliche war wie weggescheucht.

Zu unserem Haus gehörten bestimmte Klopfgeräusche. Einmal verursacht durch unser Schaf. Ja, in dem von der Grundfläche doch schon so kleinen Haus gab es einen Stallbereich, der separat durch eine Tür von außen zu erreichen war. Auch konnte man über eine Leiter zum Heuboden gelangen. Es gab also dort einen Schweinestall und ein abgetrenntes Teil für unser Schaf. Schwein und Schaf waren in der Nachkriegszeit von großem Wert. Ein alljährlich im Winterhalbjahr, möglichst bei Frostwetter, geschlachtetes Schwein lieferte die Fleisch- und Wurstwaren für die kalte Jahreszeit. Das Schaf besserte die Versorgung durch Milch und immer wieder mal durch ein geschlachtetes Lamm auf, fein zubereitet eine Spezialität. Und sie lieferte die Wolle, aus der Strickgarn gesponnen wurde.

Aber zurück zu den erwähnten Klopfgeräuschen. Einmal entstanden sie durch das Stoßen des Schafes gegen die Holzwände des Stalls. Man wusste es und hörte aus Gewohnheit schon fast nicht mehr. Auch das Rumpeln der dicht am Haus vorbei fahrenden Züge wurde von uns nicht mehr bewusst wahrgenommen -  auch wenn die Tassen und Teller dann auf dem Tisch herumhüpften und im Schrank klapperten.

Ein anderes – und für Vater wichtiges - Klopfgeräusch war es, wenn während der Nacht aus dem auf der anderen Seite der Gleisanlage gelegenes Schrankenwärterhäuschen der diensthabende Schrankenwärter unten ans Haus bollerte und meinen Vater auf diese Art zu einem Diensteinsatz beorderte. Über sein Streckentelefon war er verständigt worden, dass irgendwo im Bereich Bahnmeisterei Leer ein Schaden war, der behoben werden musste. Das konnte ein Drahtseil sein, das von der Rolle gesprungen war, Weichen, die sich nicht richtig verstellen ließen, Signale die klemmten, Schranken die defekt waren. Es wurde dann eine umgehende Reparatur angefordert, die mein Vater - auch nachts – gleich zu erledigen hatte. Der Arbeitsbereich ging an der Strecke Emder Bahn von Anfang Papenburg bis zur Grenze des Emder Stadtbereichs und an der Oldenburger Strecke, für die Vater auch bereitstehen musste, bis Apen. Das kann man sich heute fast nicht mehr vorstellen.

Nachdem die ganze Familie durch die Klopfzeichen des Bahnwärters wach geworden war (und auch noch durch das laute Gespräch mitbekommen hatte, wohin Vater zu fahren hatte und was für ein Schaden zu beheben war), fuhr mein Vater los. Bereitschaft war eben angesagt - egal wie spät es war. Dienstautos gab es damals nicht für diesen Job. Vater holte also sein Fahrrad aus dem Stall und radelte, mit seiner großen Werkzeugtasche auf dem Gepäckträger, los zum Einsatzort. Bei Wind und Wetter - und mit großer Selbstverständlichkeit. Wenn’s dicke kam, musste er bis kurz vor Emden, Papenburg oder Apen radeln. Und nach der Reparatur musste er dann die gleiche Strecke wieder zurück nach Hause radeln. Später ist das nicht ohne Folgen geblieben: Vater ist bei Glätte während eines nächtlichen Einsatzes gestürzt und hat sich dabei so verletzt, dass er diesen Außendienst nicht mehr ausüben konnte.

Jetzt bin ich schon beim Schrankenwärterhäuschen auf der anderen Seite der Gleisanlagen vor unserer Haustür. Es steht schon viele Jahre nicht mehr. Die Zeit, wo das Schrankendrehen, die Weichen oder die Einfahrtssignale zu stellen noch mechanisch ausgeführt wurde, ist längst vorbei. Heute wird alles per Computer programmiert und ausgeführt. Kinder, die heute groß werden, können einfach nicht mehr diese Erlebnisse haben, die uns damals möglich waren. Abends, bei einsetzender Dämmerung war uns das Schrankenwärterhäuschen ein zweites Zuhause. Dort war es immer schön warm, man lauschte den Telefondurchsagen, mit denen von anderen Schrankenposten oder Stellwerken Züge angekündigt wurden. Dann hielt man Ausschau, ob die angesagten Züge in der Ferne zu sehen waren und begleitete den Schrankenwärter nach draußen. Wenn’s ein guter Tag war, durfte man die am Drehbock stehende Laterne hin- und her schwenken. Das war das Zeichen für den Lokführer, dass der Schrankenwärter auf Posten und die Schranke geschlossen war. Mit einer gewissen Wichtigkeit ließen wir dann den Zug passieren und fühlten uns mit dem Lokführer und den Zuginsassen verbunden, sie wurden uns zu lieben Fremden.

Überhaupt, die Schienenstrecke war für uns in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Richtung Leer befand sich kurz vor der Ringstraße ein Signal, eben eines, das vom alten Stellwerk Leer aus bedient wurde. Stand das Signal auf ROT, hieß es HALT für den Zug. Züge, die aus Richtung Emden kamen, waren damals auch schon sehr lang. Allerdings waren sie nicht wie heute mit Autos beladen, sondern mit Erz und Kohle. Die Erschütterung ließ die nähere Umgebung erbeben. Musste ein solch langer Zug am Signal halten, blockierte er die Schranken und alles musste warten.

Für uns Kinder war es immer schön, wenn es sich so traf, dass morgens, wenn wir alle zur Schule mussten, wieder mal ein Zug auf dem Bahnübergang stand. Eine große Traube von Schulkindern aus dem Parallel- und Kolonistenweg, dem Logaer Weg bis zum Julianenpark, dem damaligen Feldweg, Parkstraße usw. stand vor den Schranken. Dann galt immer die Parole: Nach dem Öffnen der Schranken sehr seeehr langsam zur Schule zu laufen. Erst das letzte Stück legten wir dann Trapp ein, damit wir auch mit hängender Zunge beteuern konnten: Wir konnten leider nicht pünktlich sein, weil wieder einmal der Zug vor den Schranken stehen blieb.

Die Bahnstrecke war für uns auch aus einem anderen Grund regelrecht lebenswichtig: Etwa 2 - 3 mal im Jahr fuhr vom Bahnhof Leer aus eine Lokomotive speziell zu unserem Haus und hielt dort auf der Höhe unseres Hofes. Dort  befanden sich zwei große unterirdische Wasserbehälter, die mit großen Eisenplatten abgedeckt waren. Von hier aus beförderten wir mit der eingangs schon erwähnter Pumpe unser Brauchwasser ins Haus. Wir hatten also unsere eigene, aber auch in Dürrezeiten oft von den Nachbarn mitbenutzte Wasserversorgung. Stellten wir fest, dass der Wasservorrat in den Behältern zur Neige ging, wurde die Wasserlok bestellt. Diese wurde dann im Bahnhof Leer an dem großen Schwenkrohr mit Wasser gefüllt und das kostbare Naß bei uns mit Hilfe von Verlängerungsrohren in die Reservebecken geleitet. Für meine Schwester und mich war das immer ein erhebender Moment. Wir bekamen unser eigenes Wasser gebracht!

Zur Bahnstrecke gehörte der uns freundschaftlich verbundener Streckenwärter. Er lief die Bahnstrecken ab, immer auf dem Gleiskörper, immer von Schwelle zu Schwelle (damals noch Holzschwellen), seinen Blick stets auf die dicken Verschraubungen gerichtet. Kam ihm eine nicht fest genug angedreht vor, nahm er zur Überprüfung seinen Hammer, haute dagegen - und je nach Ergebnis ging er weiter oder zog mit einem riesigen Schraubenschlüssel die Schraube fest.

Sahen wir den Streckenwärter kommen, liefen wir ihm auf dem seitlichen Weg ein Stück entgegen. Nie haben wir erlebt, dass er abweisend gewesen wäre. Er freute sich offensichtlich, wenn er uns sah. Meistens hielt er auf einen kleinen Schwatz an und ging dann weiter. War es aber gerade Mittagszeit, so unterbrach er seine Wanderung, ging zu uns ins Haus, wo meine Mutter ihm sein Essen, das er wie damals üblich im Essgeschirr bei sich trug, im Wasserbad erhitzte. Er machte bei uns Mittagspause.

Noch spannender war es, wenn die „Rotte“ auf der Strecke zu arbeiten hatte. Die Rotte bestand aus 10 bis 15 Männern, angeführt von einem Rottenführer, der mit einem langen Messinghorn ausgestattet war, in das er laut - sehr laut - blies, wenn sich in der Ferne ein Zug näherte. Sofort verließen dann alle Rottemänner den Bahnkörper, ließen den Zug passieren und setzten danach ihre Arbeit fort. Als Kinder lernten wir daraus: "Auf den Rottenführer ist Verlass."

Auch diese Männer brachten in schon besagten Essgeschirren ihr Mittagessen mit. Um bis an die 20 solcher Töpfe zu erwärmen, musste schon ein großes Wasserbad vorgehalten werden. Und in der Tat - für diese Fälle hatte mein Vater eine große Form aus Eisen geschmiedet, die fast die ganze Herdoberfläche bedeckte. Meine Mutter füllte diesen Supertopf zum Teil mit Wasser, stellte die Töpfe hinein und erwärmte mit dem heiß werdenden Wasser die Essgeschirre und damit den Speiseninhalt. Man musste vorher die Spannverschlüsse öffnen, damit beim Erwärmen der Speisen kein Überdruck entstand. Die Männer konnten sich darauf verlassen, dass ihr jeweiliges Essen zur Mittagspause mundgerecht gewärmt war. Das war für meine Mutter auch eine Selbstverständlichkeit. - So war es damals eben.

Die Bahndämme zu beiden Seiten des Gleiskörpers mit ihren Böschungen und Gräben waren für uns Kinder herrliche Spielparadiese. Viele Pflanzen und Tiere, die wir hier kennen lernten, sind mir heute noch liebe alte Bekannte aus der Kinderzeit. Unserer Fantasie waren in einem solchen Umfeld keine Grenzen gesetzt. Abends waren wir vom Spielen in der freien Natur oft so müde, dass wir kaum noch nach Hause kamen. Ein Tag war wie eine Ewigkeit.  

Neben dem Spielen war es selbstverständlich, in Haus und Garten zu helfen. Zum Haus gehörte ein großer Garten, der am Bahndamm entlang verlief und sich keilförmig bis fast zur Höhe des Signals bei Bauer Busch ersteckte. Dieser Garten war in der Nachkriegszeit, als man noch fast nichts kaufen konnte, von unschätzbarem Wert. Es wurde fast alles selbst angebaut, was man zum täglichen Leben brauchte: Kartoffeln, Kohl, viele Sorten Gemüse und Salat, Beeren, Obst. Und natürlich gab es auch jede Menge Blumen: Stauden, Frühblüher, Büsche wie Flieder, Hortesien usw. Eine reiche Fülle. Aber es musste dafür auch gegraben, gepflanzt, gesät, gegossen und geerntet werden. Es war selbstverständlich, den Eltern hierbei zu helfen, soweit es ging. Dann waren da ja auch neben Schwein und Schaf auch noch die Hühner und Kaninchen, die unseren Speiseplan aufbesserten, die aber auch versorgt sein wollten - und natürlich auch wurden.

Besonders will ich noch die Nachbarschaft erwähnen. - Was war das doch für ein Zusammenhalt! Für uns Kinder ein großer Schatz für das spätere Leben. Lernten wir doch etwas über Vertrauen, Miteinander, Geben und Nehmen, Einstehen für den anderen, Mithilfe und eine gute Portion Zuversicht kennen.

Vieles hat sich bis heute verändert. Das Haus ist in die Jahre gekommen, ist heute nicht mehr Eigentum der Bahn, eine Ära ging zu Ende. Die schönen Rundbögen über den meisten Fenstern sind verschwunden. Sie mussten neuen Fenstern mit anderen Formen weichen. Sprayer haben einen Verschönerungsversuch probiert, - nicht so ganz passend. Das Grundstück wurde mit einem weiteren Haus bebaut, die Straße ist verbreitert worden, so dass der alte Ahornbaum, der früher auf unserem Hof stand, jetzt zwischen Rad- und Gehweg steht: Aber immerhin steht er noch.

* * *

40 Jahre habe ich nach dieser Zeit in Süddeutschland gelebt, in einem völlig anderen Umfeld. Im Ruhestand hat es mich wieder hergezogen. Vieles Altvertraute habe ich wiedergefunden, vieles hat sich aber auch verändert, sowohl zum Positiven als auch zum Negativen.

Um an der Bahnstrecke zu bleiben. Auch wenn das Bahnhaus den ehemaligen Charme verloren hat: Die guten Zeiten, die ich dort erlebt habe, bleiben in meiner Erinnerung. Dort gehen sie nicht verloren.

Heidegret Gronewold

Bauhistorische und baufachliche Ergänzung:

Ab der Mitte des 19.Jahrhunderts wurden die Eisenbahnlinien Emden - Ruhrgebiet und Leer - Oldenburg gebaut. So wurde 1853 die Eisenbahnlinie Emden-Leer-Rheine und 1869 die Eisenbahnlinie Leer-Oldenburg-Bremen fertig gestellt. Beide Trassen führten vom benachbarten Bahnhof Leer aus am Rande des Geestrückens durch die Heisfelder Dorfflur und durchteilten diese. Zunächst kamen durch den Bahnkörperbau neue Arbeitskräfte von außerhalb nach hier, die neue Familien gründeten oder ihre Familienmitglieder nachholten. Dem einsetzenden Personen- und der Güterverkehr der Eisenbahn folgten ganz neue Berufsfelder. Heisfelde wuchs. Die Anzahl der Wohnhäuser und der Bewohner verdoppelte sich

  • von  rd.  400 Personen in rd.  50 Häuser im Jahr 1855
  • auf   rd.  800 Personen in rd.  80 Häuser im Jahr 1880  (nach dem Eisenbahnbau)

 An bestimmten Weg- oder Straßenkreuzungen mit den Bahnlinien wurden Schrankenanlagen erforderlich, um den kreuzenden Verkehr bei herannahenden Zügen zu schützen. Das ist im Prinzip auch heute noch so.

 

In Heisfelde waren für den örtlichen Bedarf im Verlauf der Bahnlinien für die Übergänge Moorweg und Lagaer Weg kleine Schutzhäuschen gebaut worden, von wo aus auch die benachbarten Übergänge Jägerskamp bzw. Ringstraße mit bedient wurden. Allerdings wurden mit der Zeit einige Übergänge geschlossen (Jägerskamp, Ringstraße).

 

 

Im nördlichen Teil der heutigen Stadt Leer gab es im Verlauf der „Emder Bahn“ Bahnwärterhäuschchen

  • in Alt-Schwoog,
  • oberhalb von Eisinghausen,
  • am Jägerskamp,
  • am Moorweg (später eingerichtet mit zusätzlicher Bedienung des Überganges Jägerskamp) / (der Standort am Moorweg ist noch nicht eingezeichnet. Wird nachgeholt),
  • am Logaer Weg (2x)
  • und an der Ringstraße.
  • Weiter ein Bahnwärterhäuschen im Verlauf der „Oldenburger Bahn“ am Feldweg (heute Böcklinweg).

 

 

 

 Im südlichen Teil der heutigen Stadt Leer (nicht dargestellt) gab es im Verlauf der beiden Bahnlinien Bahnwärterhäuschchen

  • am Stellwerk Mühlenstraße und
  • an der gegenüberliegendes Flussseite der Leda  an der Eisenbahnbrücke in Heerenborg

 

Die manuelle Bedienung der Schranken oblag dem Bahn- Schrankenwärter, der in der Regel in der Nachbarschaft wohnte. So war nach dem 2.Weltkrieg z.B. für den Bahnübergang Moorweg Lüpke Fluß zuständig.

Am Feldweg war gar eine Frau im Dienst: Roelfke Honsel, geb. Behrends „dreihte de Schranken“. Wegen der Bahnsignale wurde sie von vielen liebevoll „Oma Tüüt“ genannt. Sie war die Ehefrau von August Honsel, einem regional bekannten Entfesselungskünstler, mit dem sie am Diekelweg wohnte. Roelfke begleitete ihren Mann zu den Jahrmärkten und assistierte ihm dort. Dabei war sie auch selbst wohl mitwirkend auf der Bühne, die aus der Ladefläche eines kleinen alten Autotransporters bestand, tätig. Heinrich Meyer (vom Kolonialwarengeschäft Meyer, Ecke Logaer Weg/ Feldweg) erzählte, Oma Tüüt habe oft im Geschäftshaushalt seiner Eltern mitgeholfen, ihm auch so manchen Seiltrick gezeigt. Heide Braukmüller, damals im Eckhaus der heutigen Menzelstraße/Parkstraße wohnend, hat in einem kleinen Büchlein ein Lebensbild der beiden Heisfelder aufgezeichnet[1], das ich sehr empfehlen kann.

 

Im Gesamtverlauf der oben genannten Eisenbahnlinien waren in bestimmten Abständen der Streckenverläufe fast identische zweigeschossige Bahnwärterhäuser errichtet worden, von wo aus die Bahnanlagen gewartet wurden. So in Alt-Schwoog, am Logaer Weg und nach dem Bahnhof wieder an der Eisenbahnbrücke an der Leda. Die Bahnwärterhäuser wurden den Bediensteten der Bahn, die für diese Arbeiten verantwortlich tätig waren, für sich und ihre Familie als Wohnung zugewiesen.  Der zuständige Bahnbedienstete hatte einen genau festgelegten Abschnitt der Bahnanlagen einschließlich der technischen Anlagen im Bahnwärterhaus und die Signalanlagen zu warten, auch kleinere Reparaturen zu erledigen. Handwerkliche Arbeiten am Bahnkörper selbst erledigten eine bahneigene Arbeiterkolonnen (sog. Rotte) unter Leitung eines Rottführers. 

 

Das Bahnwärterhaus ist vor 1872 erbaut worden, denn in der sog. „Urkarte von Heisfelde“ von 1872 (Blatt 4)ist es bereits eingezeichnet.

Die Bahnwärterhäuser wurden als „Typenhäuser“ errichtet und waren in Form, Größe und Gestaltung gleich. Bei dem linken Beispiel aus dem nicht mehr vorhandenen Gebäude in Alt-Schwoog sieht man noch sehr schön die reizvolle Rundbogenarchitektur der Obergeschoßfenster.

 

Das Bahnwärterhaus am Logaer Weg wurde 1878 von der „Großherzoglichen Oldenburgischen Eisenbahn-Direktion“ bei der Ostfriesischen Landschaftlichen Brandkasse zur Versicherung angemeldet. Es ist meines Wissens das letzte Gebäude dieser Art im Landkreis Leer, zweifelsohne ein Baudenkmal der besonderen Art.

Berend Schröder

 

 

 



[1] Dr. Dr. Heide Braukmüller: Entfesselungskünstler August Honsel und Frau. Herausgegeben 2009 vom Landkreis Leer. Verlag: 1 Druck Hans Wagner