Auszug aus der Broschüre Nr. 13: "Der 2.Weltkrieg in Heisfelde"
Wie ich vor rd.67 Jahren das Kriegsende
in Heisfelde erlebte …
Persönliche Erinnerungen des Verfassers Berend Schröder
 
In meinem Geburtsjahr, 1939, begann der 2. Weltkrieg. Zum Kriegsende war ich also 6 Jahre alt und wohnte mit Mutter und dem vier Jahre jüngeren Bruder Remmer in unserem Wohnhaus am Moorweg. Vater war 1943 in Russland „gefallen“.
 
Ich erinnere mich, mit zunehmendem Alter vermehrt, noch gut an viele Einzelheiten zu den letzten Kriegstagen in Leer und Heisfelde. Es sind Momentaufnahmen, die sich tief in das Gedächtnis eingegraben haben. Und aus Gesprächen mit etwa gleichaltrigen Mitbürgern weiß ich, dass es ihnen ebenso ergeht.
 
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Durch ein kleines Erlebnis wurde mir erstmals bewusst, dass wohl etwas Bedrohliches auf uns zukommen musste:
       Uns besuchte Anfang April 1945 der damals in Leer und Umgebung bekannte und populäre Arzt Dr. Hake, bei dem unsere Mutter vor ihrer Ehe lange Jahre als Sprechstundenhilfe tätig war. Er brachte seine Schreibmaschine und einige Bücher und stellte sie in einer Reihe auf den Wohnzimmerschrank. „Die hole ich nach dem Krieg wieder ab“, sagte er. Die Aufbewahrung in Leer war ihm wohl zu unsicher und eine Schreibmaschine natürlich nahezu unersetzlich.
Ich habe dann gemeinsam mit Mutter Maschine und Bücher gut verpackt in einem Holzkasten im sogenannten Kriechkeller verbuddelt. Meiner Mutter war die offene Zurschaustellung der Schreibmaschine, an der sie so viele Jahre gearbeitet hatte, und der wertvollen medizinischen Fachbücher so offen auf dem Wohnzimmerschrank doch wohl nicht so ganz geheuer.
Als das Leben nach dem Kriegsende sich wieder normalisierte, hat Dr. Hake alles unbeschädigt wieder abgeholt.
 
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Am 19.April 1945 gegen 18:30 Uhr warfen 36 britische Bomber ihre todbringende Fracht über den Kasernen ab und zerstörten die Anlagen. 250 bis 300 Menschen mussten ihr Leben lassen (siehe gesonderter Bericht).
Wir hörten die Sprengbomben und sahen den Lichterschein am Himmel. Uns schien, dass mit diesem Inferno der schon erwartete Angriff auf Leer nun begann. Also packten wir die nötigsten Siebensachen in den schon vorbereiteten „Kreitwagen“. Meine Mutter und unsere Mieterin Frau Vogelsang, ihr Mann war „vermisst“, zogen den Wagen, mein kleinerer Bruder saß oben auf dem Gepackten, und die Nachbarstochter Hanna-Gerda und ich schoben hinten. So zogen wir ins Bauernmoor zu Familie Janssen, die uns für eine Nacht beherbergte.
Auf der Hinfahrt sahen wir das schaurige Schauspiel: Die Kasernen brannten lichterloh. Der ganze Himmel über dem östlichen Teil der benachbarten Stadt war rot eingefärbt. So habe ich mir später immer „Sodom und Gomorra“, eine Szene aus der Bibel, vorgestellt. Bei Janssens trafen wir noch viele „Kurzzeitflüchtlinge“ aus Leer und Heisfelde.
Am anderen Morgen, nachdem wir auf einem Strohlager mehr oder weniger gut geschlafen hatten, ging es wieder zurück zu unserem Haus. Gottlob war dort nichts passiert. Unsere Hühner, die wir frei hatten laufen lassen, kamen uns entgegen und warteten auf ihr Futter.
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In den nächsten Tagen hörten wir immer wieder in der Ferne Geschützdonner und das Krachen von Bomben. Ständig gab es Fliegeralarm und wir mussten in den Keller. Bis die Sirene dann einen bestimmten Entwarnungston ausgab: Man durfte wieder ans Tageslicht.
Es war eine schaurig-interessante Zeit für uns Kinder: Wir stürmten dann gleich ins Freie, suchten „Splitter“, bizarr geformte Eisenstückchen der explodierten Geschosse. Manchmal fanden wir auch schmale Silberpapierröllchen. Sie wurden wohl von den verteidigenden deutschen Truppen abgeschossen, um die feindliche Ortung durch Flugzeuge zu stören. Da es noch an neuem Spielzeug mangelte, war das für uns Kinder alles hochinteressant und gut zu brauchen.
Zu bestimmten Zeiten durfte die Raumbeleuchtung der Wohnungen nicht eingeschaltet werden. Und wenn es abends dann außerhalb der Alarmzeiten doch einmal sein musste: Lichtdichte Papierrollos, außen dunkelgrün und raumseitig cremefarbig, schirmten die Räume nach außen ab. An den Fensterrahmen waren zusätzlich drehbare Klemmstücke angebracht, die das Rollo fest und lückenlos an den Rahmen pressten.
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Ende April 1945 nahmen wir verschiedentlich für einige Tage Gäste aus der Stadt auf, die vor dem „Beschuß“ fliehen mussten. Heisfelde galt in diesen Tagen noch als sicher:
 
Frau Winenga von der Deichstraße, hoch schwanger, kam mit ihrem Sohn Enno zu uns, als die Kanadier sich anschickten, über die Ems zu setzten. Meine Mutter war über die nach Amerika ausgewanderte Brunken-Familie, Freunde meines Onkels, gut mit den Familien Winenga - Pagels bekannt.
Doch Frau Winenga wollte ihren späteren Sohn Heiko unbedingt in Leer zur Welt bringen und zog mitten im Kriegsgetümmel wieder nach Leer in ihre Wohnung.
 
Kurz vor der Einnahme Leers wohnten als weitere gute Bekannte meiner Mutter zwei Schwestern der Familie Hörmann, die in dem Eckhaus Mühlenstraße/Georgstraße (heute u.a. Fa. Unkel) ein Feinkostgeschäft betrieben, einige Tage bei uns, wegen der Gefahrenlage meistens im Keller. Sie hatten eine Flasche Cognac und Süßigkeiten mitgebracht. Besonders letzteres war für uns Kinder natürlich etwas ganz besonderes. Ich (6 Jahre alt) hatte vorher noch nie Bonbons gesehen, geschweige denn gegessen.
 
Nach der Einnahme Leers am 30.April, morgens ganz früh, zogen wir mit unserem Handwagen am Bahndamm entlang mit den Damen Hörmann wieder zurück zu deren Wohnung nach Leer. Denn die Kampfhandlungen näherten sich nunmehr über die Heisfelder Straße unserem Dorf und das „eingenommene“ Leer schien jetzt sicherer zu sein. In den Straßen der Stadt sahen wir im Vorübergehen viele beschädigte Häuser und Geschäfte. Überall lagen Gewehre, Geschoß- und Patronenhülsen herum. Bei dem Hotel Frisia waren die Fensterscheiben zerstört und die Gardinen wehten im Morgenwind. Wie Kapitulationsfahnen!
 
Das Haus von Hörmanns hatte auch einige Treffer erhalten, ein großes Loch in der Dachfläche zeugte von dem Einschlag einer Granate. Diese war wohl im Bodenraum explodiert. Die Regale des Lagerbodens waren teilweise umgekippt. Der gesamte Bodenraum, so stellt es sich mir heute in der Erinnerung zumindest noch dar, war mit Bonbons übersät. Das reinste Schlaraffenland!
 
Von lautem Motorengeräusch angezogen lugten wir durch die Türscheiben auf die Mühlenstraße. Schwere gepanzerte (kanadische) Fahrzeuge fuhren vorbei.
Die Schaufenster der gegenüberliegenden Geschäftshäuser waren zersplittert. Mitbürger aus Leer stiegen durch die Fensterrahmen zunächst in die Schaufenster und dann in die Läden, bedienten sich und kamen mit Kleidungsstücken über dem Arm auf dem gleichen Weg wieder heraus.
Ein Panzerfahrzeug hielt vor dem Hörmann’schen Haus. Kanadische Soldaten stiegen aus, holten sich eine inzwischen unbekleidete Schaufensterpuppe aus dem Fenster des gegenüberliegenden Modehauses, banden sie vor dem Führerstand fest und rasselten mit dieser grotesken Dekoration weiter durch die Stadt in Richtung Denkmalsplatz.
 
Am nächsten Tag, das Kriegsgeschehen in Heisfelde war abgeebbt, zogen wir mit unserem Handwagen wieder am Bahndamm entlang zum Moorweg zurück.
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Es war Ende April 1945. Die Sirenen heulten. Wir mussten die Häuser verlassen und in dafür angelegte sogenannte „Einmannslöcher“ hinter dem auch heute noch mit uralten Eichen bestandenen Wall, etwa der Einmündung der Erikastraße in den Moorweg gegenüber, Schutz suchen. Wir Kinder lagen unten im Loch und die Mutter, schützend wie eine Glucke, darüber. Als es Entwarnung gab, waren meine Beine eingeschlafen, und ein deutscher Soldat, von Mutter darum gebeten, trug mich nach Hause.
 
Hier gab es eine Überraschung: Ein dicker Findling lag im Schlafzimmer im Erdgeschoß auf dem Bett!
Wie wir später erfuhren, lagerte hinter einem Natursteinrondell im Barkei`schen Garten Munition. Ein Zufallstreffer der gegnerischen Luftwaffe fand wohl sein Ziel: Eine gewaltige Detonation war die Folge. Die Balustrade wurde auseinander gerissen und die Findlingsteine durch den gewaltigen Druck empor - und in die Umgebung geschleudert.
 
Das untenstehende Bild zeigt den Garten des Gasthofes Barkei. Nach Angabe von „Joke“ Barkei zeigt das Foto seine Mutter, die seine Schwester Magret auf dem Arm trägt. Weitere Geschwister spielen auf dem Karussel.
Im Hintergrund sieht man ein Flintenstein- Rondell, das nicht zerstört wurde und noch heute so vorhanden ist. 
Natursteinrondell in Barkeis’s Garten     Foto/Repro: Sammlung Schröder
 

 Einige dieser Natursteine trafen auch die Wohngebäude am Moorweg. So war ein Findling bei uns im Wohnhausdach eingeschlagen, hatte die Erdgeschoß- Balkendecke durchdrungen und lag nun bei unserer Rückkehr friedlich auf dem Bett, in einem Kranz von Putzbrocken und Rohrgeweberesten.

Bei einigen Nachbarhäusern war ähnliches passiert; bei meiner Tante Anni (Mouson) nebenan landete der Stein sogar im Keller.
Als kleiner 6jähriger Junge interessierte mich damals nicht so sehr der Schaden, den Opa Schröder in den nächsten Tagen zunächst notdürftig wieder reparierte. Ich war vielmehr verwundert darüber, welche Schleuderkraft so eine Explosion auslösen kann. Und es war mir - auch heute noch - ein Rätsel, wie zielgenau diese Steine die Dächer unserer Häuser trafen. Immer, wenn ich später im Bett lag und über mir an der Decke die noch viele Jahre sichtbare verputzte Einschlagstelle sah, kam die Erinnerung an diesen Tag wieder hoch.
 
Nach dem Kriegsende waren die Findlinge in der Nachkriegszeit bei den Hausfrauen am Moorweg beliebt als Beschwerungsstein „up`t Suurkohlpottt“ oder, und das trifft es besser, „up’t Flintpott“.
 
Wo ist der Stein wohl geblieben?
Man hätte ihn aufheben müssen als Erinnerung
an diese wirren angstvollen Wochen bis zum Kriegsende.
 
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Große - wohl unberechtigte - Sorge hatten wir in dieser unsicheren Zeit immer um unsere Oma Hessenius, die alleine in ihrem Haus am Lütje Weg 6 (heute Wohnhaus Straatmann) wohnte. Sie hatte in den Kriegsjahren zwei Söhne, eine Tochter und einen Schwiegersohn verloren. Da ist es wohl verständlich, dass einiges bei ihr zeitweise „aushakte“, die Gegenwart verdrängt wurde. Sie saß am Fenster und erzählte sich was. Ich weiß noch gut, dass es um Jugenderinnerungen, auch um ihre Zeit als Magd im Rheiderland, ging. Eben um alte Zeiten. Es war ihr dabei nicht wichtig, dass jemand zuhörte.
Sie liebte ihr Haus, konnte sich noch gut selbst versorgen und wollte nicht zu uns zum Moorweg kommen, auch nicht für einige Tage. So fuhr meine Mutter zwischen den Angriffen immer wieder schnell mit dem Fahrrad zu ihr, um nach dem rechten zu sehen. Überdies hatten die Nachbarn, zu denen sie ein sehr gutes Verhältnis hatte, zugesagt, immer mal bei Oma vorbeizuschauen.
Sie nahm das Kriegsgeschehen nicht bewusst wahr und hatte keine Angst. „Ik stoh in Gotts Hand“ sagte sie dann und meinte das auch so.
Nun kam der „Beschuß“. Alles war in den Kellern. Im Lütje Weg war gegenüber dem Haus von Oma im Garten bei der Familie Wissmann ein Bunker für die Anlieger errichtet worden. Aber Oma ging, auch mit liebevollem Zureden, da nicht mit hinein.
 

Zugemauerter Bunkereingang an der Heisfelder Straße.
Es gab etliche dieser Bunker in Heisfelde, auch am Lütje Weg.
 
Oma saß am liebsten im Höörn am Fenster in der Küche, von wo aus sie einen weiten Blick über den langgezogenen Garten mit einer freien Sicht bis hin zur Heisfelder Straße hatte. Neben sich auf der Fensterbank den Nähkasten und die Bibel, in der sie jeden Morgen ein Stück las und in die sie ausgeschnittene Todesanzeigen ablegte. In der Fensterleibung hingen eine eiserne Haushaltsschere und ein Schuhanzieher aus gelblichem Horn. Neben einem kleinen Stellfenster, das nie verriegelt war, hing an der Raumseite immer ein auch von außen zu erreichender Hausschlüssel. Die Kinder, die zum Teil weit weg waren (Stadt Leer, Holland, Amerika, Russland), sollten zu jeder Tages- und Nachtzeit die Möglichkeit haben, auch unangemeldet ihr Heimathaus betreten zu können.
Vor ihren Knien stand, mit der Seitenfront zu ihr ausgerichtet, der eiserne Kohle-Küchenofen mit der blankgeputzten Messingstange an drei Seiten. Auf der mit Eisenringen geschlossenen Feuerstelle summte immer ein gefüllter Wasserkessel. Und ein Teetopf auf einem Drahtrost war greifbar in der Nähe. Jedem, der zu Besuch kam, wurde ohne großes Gefrage schnell eine Tasse Tee eingeschenkt.
 
Dann waren eines Tages die kanadischen Soldaten in Heisfelde. Sie durchsuchten die Häuser nach Schmuck und sonstigen Wertgegenständen. Als Mutter mittags zum Lütje Weg kam, standen drei nicht abgewaschene Teetassen auf dem Tisch. Auf die Frage nach dem Besuch antwortete Oma: „Wassen poor Jungs van`t Feld bi mi. Ik hepp höör erst `n Koppke Tee inschunken.“ Sie meinte, sie hätte die Besucher nicht verstehen können. Aber sie wären sehr nett gewesen.
Oma hatte mit ein paar kanadischen Soldaten Tee getrunken.
Der Krieg war vorbei.