Aus: „Unser Weg“
Mitteilungsblatt des Bezirksvorstandes der SPD Weser-Ems
41. Jahrgang - Juli/August 1993 - Nummer 4 - Ausgabe C
Zusammengestellt von
"Für die
Schwachen
und Hilfs-
bedürftigen
da sein"
Zum Tode des Bundestagsabgeordneten
Günther Tietjen
* 08. 11.1943
+ 07. 07.1993
von Reinhold Robbe
Das amtliche Handbuch des Deutschen Bundestages gibt so manche Aufschlüsse über den persönlichen Hintergrund der deutschen Volksvertreter.
Nicht selten sind dort zahlreiche wichtige und weniger wichtige Funktionen aufgeführt, ebenso wie schulische und berufliche Erfolge und nicht zuletzt diverse Angaben über Ämter, die nicht selten mit lukrativen Nebeneinnahmen verbunden sind.
Nicht so bei dem SPD-Bundestagsabgeordneten Günther Tietjen. Was über den Leeraner Abgeordneten auf Seite 438 des Handbuches zu lesen ist, mag Außenstehende wundern: Neben einigen persönlichen Daten ist dort lediglich aufgeführt, welche Parteiämter der ostfriesische Sozialdemokrat innehat und dass er Mitglied im Kleingartenbauverein "Abendfrieden" und Ehrenmitglied der Freiwilligen Feuerwehr Heisfelde war.
Repräsentieren war nicht seine Sache. Günther Tietjen gehörte zu den Politikern, die ihre Befriedigung darin finden, etwas zu bewegen und voranzubringen.
Er gehörte zu denen, die es gerne anderen überlassen, im Mittelpunkt zu stehen. Er sah seine Rolle vielmehr darin, im Hintergrund zu wirken, wichtige Entscheidungen im Vorfeld "wasserdicht" zu machen und anderen den Rücken freizuhalten.
Gepaart war dieses Rollenverständnis mit einer Reihe von Fähigkeiten, die nicht selten die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit bilden. So verfügte Günther Tietjen über eine ungewöhnlich gute Menschenkenntnis, was nicht zuletzt auf seine frühere Tätigkeit als Kriminalpolizist zurückgeführt werden kann. Auch seine ungezwungene Art, auf anderen Menschen zuzugehen, zählen neben seiner Offenheit und Ehrlichkeit zu den hervorstechensten Eigenschaften.
Menschliche Wärme
Im Alter von 24 Jahren wird Günther Tietjen Mitglied bei den Sozialdemokraten. Er hatte nach der Volksschule eine Lehre als Einzelhandelskaufmann hinter sich gebracht und sich 1961 dazu entschlossen, in den Polizeidienst einzutreten, was er zu keiner Zeit bereut hat.
Dieser Beruf machte ihm Spaß; er war mit Leib und Seele Polizist, was auch seine Vorgesetzten sehr bald erkannten und ihm 1966 den Aufstieg zur Kriminalpolizei ermöglichten.
Dieser Karrieresprung bedeutete für Günther Tietjen, der nie einen Hehl daraus machte, dass er einer Arbeiterfamilie entstammte und lediglich über das "Volksabitur" verfügte, mehr als er zugeben mochte. Seine berufliche Position war für ihn eine Bestätigung dafür, dass man auch als Kind aus sogenannten kleinen Verhältnissen etwas vernünftiges werden kann, wenn man sein gestecktes Ziel konsequent verfolgt.
Diesen Grundsatz hat Günther Tietjen auch zur Leitlinie seines politischen Handelns gemacht. Er wusste immer, was er wollte und überließ selten etwas dem Zufall. Trotzdem kam sein erster Einzug in den Bundestag überraschend. Nachdem er gerade ein wenig in der Kommunalpolitik Fuß gefasst hatte, rückte er 1974 für einen Abgeordneten nach, der in das Europa-Parlament gewählt worden war. Zum erstenmal wurde der junge Kommunalpolitiker mit der großen Politik konfrontiert.
Hatte er bisher den „Feierabend-Politikern“ im Stadtrat gegenüber gesessen, so waren es jetzt plötzlich große Persönlichkeiten, wie Brandt, Wehner und Schmidt, mit denen er es zu tun hatte.
Schon sehr bald muss der junge Abgeordnete Tietjen erfahren, dass eine große Bundestagsfraktion wenig gemein hat mit Arbeitsatmosphäre und Kollegialität in einem überschaubaren Ortsverein oder einer Ratsfraktion. Und so sind es dann auch nur wenige alteingesessene Fraktionskollegen, die dem jungen Abgeordneten Hilfe und Unterstützung anbieten. Zu ihnen zählen Egon Franke (Chef der damaligen „Kanalarbeiter“), Annemarie Renger, Hans-Jürgen Wischnewski und nicht zuletzt auch Herbert Wehner.
Tietjen findet dann auch relativ schnell zu den „Kanalern“, weil ihm dort menschliche Wärme und solidarisches Zusammenwirken entgegengebracht wird. Den „Kanalarbeitern“, die inzwischen als „Seeheimer Kreis“ firmieren, ist Tietjen auch später treu geblieben. Zuletzt war er deren Geschäftsführer. Zu seinen angenehmsten Aufgaben in dieser Funktion zählte die Durchführung der alljährlich stattfindenden „Spargel-Fahrt“, einem großen Treffen aller aktiven und ehemaligen „Kanaler“ an dem regelmäßig auch Altkanzler Helmut Schmidt teilnahm, mit dem Günther Tietjen bis zuletzt freundschaftlich verbunden war.
Anderen Helfen
Wenn Günther Tietjen gefragt wurde, was für ihn als Abgeordneter zu den Höhepunkten seiner politischen Laufbahn gerechnet werden könne, dann kam stets die obligatorische Antwort: „Höhepunkte waren für mich alle Situationen, in denen ich anderen Menschen helfen konnte!“ Hierbei war die von Herbert Wehner geprägte Definition des Begriffs „Solidarität“ Grundlage für Tietjens Arbeit. „Solidarität heißt für uns Sozialdemokraten, daß die Starken in unserer Gesellschaft für die Schwachen und Hilfsbedürftigen da sind.“ Dieses Leitmotiv wurde für Günther Tietjen zur Maxime seines politischen Handelns.
Er hat auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit deutlich gemacht, wie eng er sich mit seiner Partei verbunden fühlte. In diesem Zusammenhang sprach er einmal davon, daß ein sozialdemokratischer Mandatsträger kein „freischwebender Künstler“ werden dürfe und spielte damit auf die Notwendigkeit an, in der Partei, dem ein Abgeordneter letzlich sein Mandat zu verdanken habe, eng verwurzelt zu bleiben. Für ihn war es somit eine logische Konsequenz, während seiner gesamten Bonner Abgeordneten-Tätigkeit im Unterbezirks- und Bezirksvorstand in führender Funktion Verantwortung zu übernehmen.
Als Mitglied des Innenausschusses sah er deshalb eine besondere Aufgabe darin, sich um jene Arbeit-nehmergruppen im Polizeibereich zu kümmern, die zu den unteren Einkommensgruppen zählen. Hierbei hat er sich nicht darauf verlassen, was ihm leitende Ministerialbeamte vortrugen. Er hat - nicht selten unter dem Protest der vorgesetzten Dienststellen - den direkten Kontakt mit den Betroffenen gesucht.
Dadurch ist es zu erklären, daß es in Bonn kaum einen Sicherheitsbeamten im Bundestagsbereich gibt, der den „Abgeordneten Tietjen“ in der vorgeschriebenen offiziellen Form ansprach. Besucher trauten oftmals ihren Ohren nicht, wenn vom Bundeshaus-Pförtner bis zum Bodyguard eine vertrauliche Umgangsform mit rheinischem Unterton gang und gäbe war: „Tag Jünther, wie jet et dir?“
Ein wichtiges Betätigkeitsfeld vor dem Fall der Mauer bestand für Tietjen in der Unterstützung ostdeutscher Mitbürger, die unter dem DDR-Regime zu leiden hatten. In vielen Fällen gelang es ihm, inhaftierten und in Not geratenen DDR-Bürgern die Ausreise zu ermöglichen.
Tietjen pflegte viele persönliche Kontakte zum anderen Teil Deutschlands und fuhr mehrmals im Jahr über die innerdeutsche Grenze.
Wäre der Begriff des Patriotismus nicht so konservativ besetzt, könnte man ihn auf Günther Tietjen anwenden.
Obwohl er stets dem Prinzip des Pragmatismus gefolgt ist, ließ er sich bei wichtigen Grundsatzentscheidungen nur von seinem Gewissen und seiner christlichen Überzeugung leiten. Und zwar auch dann, wenn er öffentlich Gefahr lief, in eine Minderheitsposition zu geraten. So war es für ihn beispielsweise keine Frage, bei der Reform des Strafgesetz-Paragraphen 218 kompromißlos für Rechte des werdenden Lebens einzutreten. Andererseits wandte er sich in der Asyldiskussion mit Vehemenz gegen eine Änderung des Grundgesetz-Artikels 16.
Heimatverbunden
In dem Telefonspeicher in Tietjens Bonner-Abgeordneten-Büro waren nicht nur Politker, Behörden und Parteibüros verzeichnet, sondern auch einige Namen aus Israel, Südamerika und den USA. Vor einigen Jahren initiierte Günther Tietjen in seiner Heimatstadt Leer ein Treffen mit jüdischen Mitbürgern. Daraus entwickelten sich enge Freundschaften, die für Tietjen eine ganz besondere Qualität hatten. Deshalb nutzte er Auslandsaufenthalte sehr gerne für Begegnungen mit seinen jüdischen Freunden.
Vermutlich trug Tietjens unbefangene Offenheit nicht unwesentlich dazu bei, seinen jüdischen Freunden die Rückkehr zur Stätte ihrer Kindheit leicht zu machen. Als Angehöriger der Nachkriegsgeneration stand Günther Tietjen zu seinen Verpflichtungen, die sich aus der deutschen Geschichte ergeben. Er war ein bodenständiger Sozialdemokrat, dem jegliche Formen der Obrigkeitshörigkeit zuwider waren. Daraus erklärt sich auch seine strikte Ablehnung des Militarismus. Er war kein Pazifist, wollte aber „als Konsequenz aus unserer Geschichte“ die Rolle der Bundeswehr auf die reine Landesverteidigung beschränkt sehen.
Günther Tietjens große Leidenschaft war die maritime Welt. Er liebte die Seefahrt und fühlte sich am wohlsten, wenn er Schiffsplanken unter den Füßen spürte. Insofern ist es naheliegend, daß er die Aus-einandersetzung mit den Naturgewalten, mit den Gezeiten und mit Wind und Wetter als etwas Besonderes empfand, was auch zu tun hatte mit seinem Verständnis vom Christsein.
Wie alle Ostfriesen, fühlte er sich eng mit seiner Heimat verbunden. Der schönste Augenblick nach einer anstrengenden Sitzungswoche in Bonn bestand für ihn darin, sich im Garten seines Hauses in Heisfelde an der Natur zu erfreuen. Seinen Besuchern erzählte er gerne, nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag Hühner und Schafe züchten zu wollen.
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Dieletzten Jahre seines politischen Wirkens warengekennzeichnet von einer zunehmenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Der einst so agile und lebensfrohe Günther Tietjen mußte vor einigen Jahren zwei Hüftgelenk-Operationen über sich ergehen lassen. Mit deren Folgen er nie richtig fertig wurde. Nach und nach zog er sich von seinen Parteiämtern zurück und hatte in letzter Zeit auch keine rechte Freude mehr an der Kommunalpolitik, die für ihn seit jeher die eigentliche Plattform seiner Arbeit bildete. Seine Empfindsamkeit, die er nach außen hin immer unter einem Mantel der robusten und kantigen Umgangsformen zu verbergen versuchte, steigerte sich zunehmend, und für seine Umgebung wurde deutlich, daß seine Krankheit ihm schwer zu schaffen machte. Er wußte, wie kritisch es um ihn stand. Seinen Freunden wird er fehlen.
Reinhold Robbe
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Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Rates der Stadt Leer am 16. September 1993:
Vor Eintritt in die Tagesordnung bat der Vorsitzende (Bürgermeister Günther Boekhoff) die Anwesenden, sich von ihren Plätzen zu erheben und führte aus:
„Mit Anteilnahme und Trauer haben wir den Tod von Günther Tietjen zur Kenntnis genommen. Zu früh, viel zu früh, wurde er durch seine Krankheit gezwungen, seine Ratsarbeit einzustellen.
Die Kommunalpolitik hat Günther Tietjen geformt, so, wie er wichtige Vorhaben und Entscheidungen vorbereitet und getragen hat. Die direkte Ansprache von Bürgerinnen und Bürgern war ein Fundament seiner kommunalen Arbeit.
Für die Stadt hat er einen außergewöhnlich beispielhaften Einsatz gezeigt. Er hat seine Ämter als Ratsmitglied insgesamt 14 Jahre, als Ortsbürgermeister, als stelllv. Bürgermeister und als Fraktionsvorsitzender mit großem Engagement ausgeführt.
Seine kommunalpolitische Arbeit war anerkannt. Das Bundesverdienstkreuz erhielt Günther Tietjen auch für seine kommunalpolitische Tätigkeit. Günther Tietjen verstarb am 7. Juli 1993 nach schwerer Krankheit im Alter von 49 Jahren.
Er hat sich um die Stadt verdient gemacht und viele haben einen Freund verloren. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau und seiner Familie.
Ich danke.“
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Am 7. Juli 1993 verstarb im Alter von 49 Jahren nach schwerer Krankheit unser
Ortsvereinsvorsitzender
Günther Tietjen
Mit seiner Familie trauern wir um einen Menschen, der in vielen Funktionen sozialdemokratische Politik gestaltet und verwirklicht hat. Hierfür danken wir Günther.
Er wird uns sehr fehlen.
SPD-Ortsverein Heisfelde-Nüttermoor
Egbert Alberts Remmer Schröder
Stellvertretende Vorsitzende
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